Seit 1970 bemühte sich ein gemässigter Maskulinismus darum, die Wunden des Mannseins zu verstehen und zu heilen. Heute ist er von einem entfesselten und frauenfeindlichen Ultramaskulinismus verdrängt worden. Ein Rückblick auf den grossen Umschwung der letzten Jahre.
Auf den ersten Blick unterscheidet einen Maskulinisten nichts von einem Ultramaskulinisten, ausser dem Präfix ultra. Aus der Ferne betrachtet scheinen Jordan Peterson, Warren Farrell, Andrew Tate oder Alex Hitchens aus demselben Holz geschnitzt zu sein und prangern die Figur des verachteten und seiner Identität beraubten Mannes durch den Neofeminismus an. Dennoch weichen die Diagnosen, Methoden, Zielgruppen und politischen Ziele dieser beiden Strömungen radikal voneinander ab. Zwei unversöhnliche Ansätze, zwei Arten, das Männliche zu bewohnen. Die Einheit ist nur auf der Fassade.
Gemässigter Maskulinismus gegenüber dem Neofeminismus
Der in den 1970er Jahren in den USA entstandene egalitaristische Maskulinismus setzt sich für eine strikte Gleichstellung der Geschlechter ein, erkennt aber gleichzeitig die Verletzlichkeit jedes Einzelnen an. Warren Farrell, ehemaliges Vorstandsmitglied der feministischen Organisation NOW, verkörpert diese progressive Strömung. Nachdem er sich den ersten beiden Wellen des Feminismus angeschlossen hat, ruft der amerikanische Soziologe nun zu einem dritten Schritt auf: die Leiden der Männer in den Kampf um Gleichberechtigung einzubeziehen.
Männer gelten in Kriegs- und Friedenszeiten als «disposable sex», als das Geschlecht, das geopfert werden kann: auf dem Bau und bei schwerer Arbeit. Seit dem Jahr 2000 stellen Jungen in den USA wie auch in Europa etwa 85% der jugendlichen Strafgefangenen, zwischen 70 und 80% der Schulverweigerer und machen die Mehrheit (etwa zwei Drittel) der Schulabbrecher aus. Sie befinden sich in einer vielschichtigen Krise - schulisch, väterlich, psychologisch und beruflich -, die häufig ignoriert wird.
Farrell zeigt mit dem Finger auf diese Diskriminierungen. Seiner Meinung nach benötigen Jungen besondere Aufmerksamkeit, einen angemessenen institutionellen Rahmen und vor allem die Anwesenheit ihrer Väter. Sein linker Maskulinismus zielt darauf ab, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
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In den 1990er Jahren entstand ein komplementärer und konservativer Maskulinismus, der von Jordan Peterson verkörpert wurde. Der kanadische Psychologe erwähnt unter anderem die Sinnkrise, von der viele Männer betroffen sind. In 12 Regeln für das Leben, Peterson fordert jeden auf, «sein Zimmer in Ordnung zu bringen, bevor er die Welt verändern will», und propagiert Verantwortung und Disziplin. Sein Ansatz ist introspektiv: sich aufzurichten, sich durch Lesen zu bereichern, sich seinem inneren Chaos zu stellen und zu seinem Wort zu stehen - kurzum, sein Leben in die Hand zu nehmen.
Obwohl Peterson dem Neofeminismus kritisch gegenübersteht, stellt er nie die Gleichberechtigung oder die feministischen Errungenschaften in Frage. In Anerkennung der biologischen Unterschiede zwischen - Fortsetzung S. 14 Er betont die Komplementarität der Geschlechter auf der Grundlage der Gleichheit. Im Jahr 2018 warnt er jedoch: «Wenn Männer zu sehr dazu gedrängt werden, sich zu verweiblichen, werden sie eine harte und faschistische politische Ideologie entwickeln.»
Warren Farrell und Jordan Peterson, die zu Unrecht als «reaktiv» oder «faschistisch» beschuldigt werden, verteidigen als Vorläufer eine positive Vision von Männlichkeit.
Cassie Jaye und ihre Schock-Dokumentation über MRAs
2016 dreht die junge feministische Filmemacherin Cassie Jaye ihren Dokumentarfilm The Red Pill, Sie infiltrierte die Netzwerke der MRAs (Men's Rights Activists), um deren angebliche Giftigkeit anzuprangern. In den USA sammelte sie rund 40 Zeugenaussagen und entdeckte eine Realität, die ihren feministischen Vorurteilen völlig entgegengesetzt war. Sie hatte rachsüchtige und gallige Männer erwartet, doch sie trifft auf Männer, die durch familiäre Ungerechtigkeiten (Scheidungen, Sorgerecht) verletzt wurden und nach Anerkennung suchen. Keiner von ihnen lehnt die feministischen Errungenschaften ab, alle fordern lediglich die Anerkennung bestimmter Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten, die Männer erleben.
In ihrem TED-Vortrag «Meeting the Enemy» gibt Cassie Jaye zu, dass sie sich geirrt hat und wie sehr der Neofeminismus Männer verunglimpft und die Realität verzerrt. Diese Aufrichtigkeit kommt sie teuer zu stehen: Sie wird aus feministischen Kreisen verbannt, ihre Vorträge werden abgesagt, vor allem in Australien, und sie wird zum Feindbild des angelsächsischen Neofeminismus. Ohne den Film gesehen zu haben, verbreiten ihre zahlreichen Kritiker übertriebene Karikaturen und falsche Slogans. Abgesagt!
Ein neues Monster: Aggressiver, ungehemmter Ultramaskulinismus
Jahrzehntelang haben klar denkende Männer und Frauen dem Neofeminismus die Hand zum Dialog und zur Versöhnung gereicht. Doch der Feminismus hat sie abgewiesen und ihnen sogar ins Gesicht gespuckt. Jetzt hat sich der Wind schlagartig gedreht und die Lämmer sind den Wölfen gewichen. In den sozialen Netzwerken ist eine neue Generation von Influencern entstanden, die einen radikaleren und kriegerischeren maskulinistischen Diskurs führen.
In neofeministischen Kreisen, die glaubten, den Kampf gegen die Manosphäre gewonnen zu haben, herrscht grosse Ernüchterung. Die Zeit der Nuancen und der ausgestreckten Hände ist vorbei, jetzt geht es um die brutale Bestätigung einer erobernden und offen frauenfeindlichen Männlichkeit. Zwei Figuren verkörpern diesen grossen Bruch: Andrew Tate auf der anderen Seite des Atlantiks und Alex Hitchens in Frankreich.
Im Gegensatz zu den egalitären oder komplementären Maskulinismen schreien die Aushängeschilder des Ultramaskulinismus ihre Wut heraus und drohen mit einer riesigen feministischen Verschwörung - laut Tate die «Matrix». Sie überschwemmen die sozialen Netzwerke mit Rachereden, autoritären Geboten und frauenfeindlichen Provokationen. Tate sagt: «Ich bin absolut frauenfeindlich. Ich bin ein realistischer Mann, und wenn man realistisch ist, ist man sexistisch.» In seiner manichäischen Vision muss die Frau dem Mann dienen, zu Hause bleiben und auf persönliche Ambitionen verzichten. Frauen, die Karriere machen? Eine Anomalie. Und Frauen in Afghanistan? Tate weicht aus: «Wer bin ich, dass ich über die Taliban urteile?»
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Tate und Hitchens kommen aus dem Leistungssport und übertragen das Recht des Stärkeren auf die Beziehungen zwischen Männern und Frauen. T Hitchens ist ein ehemaliger Weltmeister im Kickboxen, der wegen Menschenhandel und Vergewaltigung ein Jahr in Untersuchungshaft sass, und T Hitchens ist ein ehemaliger Spitzenbasketballer. Beide ziehen Millionen von Zuschauern an. followers, Tate ist ein Mann, der sich von der Anbetung körperlicher Stärke und materiellen Erfolgs verführen lässt. Tate stellt schamlos sein Vermögen, seinen Fuhrpark an Luxusautos und seine Sammlung von Frauenobjekten zur Schau und zeigt damit seine Verachtung für die Stellung der Frau. Hitchens monetarisiert seine Erfolgsgeschichte, indem er seine Verführungsrezepte für teures Geld an junge, verlorene TikTokers verkauft.
In ihren Augen muss sich die männliche körperliche Überlegenheit überall durchsetzen: in der Familie, der Sexualität, der Arbeit und der Politik. Ihr Credo besteht aus drei Worten: Stärke, Luxus, Unterwerfung. Ihr Diskurs spricht vor allem Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren an. Diese beiden Gurus haben Erfolg, wo die Gesellschaft versagt: Sie bringen die Jugendlichen dazu, sich gegen eine Schule aufzulehnen, die ihnen vorwirft, sie zu verweichlichen und zu schwächen, und sich am Rande der Legalität aufzubauen. So soll man seine Stärke zeigen: indem man jede Autorität ausser sich selbst herausfordert. Die Namen Tate und Hitchens klingen heute auf den Schulhöfen, verspotten die Autorität der Schule und machen sich über das Gerede von Gleichberechtigung lustig.
Die Rückkehr des Verdrängten
Die Ursachen für den Aufschwung des Ultramaskulinismus sind komplex, aber eines ist wahrscheinlich: Dieses Phänomen wurde genährt durch die ungerechte, ja sogar manichäische Behandlung der Männerfrage durch unsere Institutionen, die sich weitgehend der neofeministischen Doxa verschrieben haben. Durch die unermüdliche Dekonstruktion von Geschlechterstereotypen und die pauschale Beschuldigung von Männern haben unsere Institutionen – allen voran die Schule – die Jungen in den Hintergrund gedrängt. Ihre Spiele, Ambitionen und Impulse wurden abwechselnd stigmatisiert, pathologisiert und dann unterdrückt, weil sie nicht kanalisiert wurden. Gedemütigte junge Menschen – vor allem unfreiwillige Singles – versuchen, bei diesen muskelbepackten Männlichkeitsverkäufern einen Anschein von Würde zu erlangen. Dies ist die Hypothese der Wiederkehr des Verdrängten.
In das Vakuum, das durch das Verschwinden der männlichen Archetypen entstanden ist, ist eine unendlich brutalere und toxischere Männlichkeit gestossen. Es gibt keine inspirierende Autorität mehr, sondern einen aggressiven Despotismus.
Farrell und die MRA vertraten legitime Forderungen, die in einer egalitären Vision verankert waren. Peterson vertrat in stoischer Manier eine innere Suche, ohne Frauenhass zu verbreiten. Heute diktieren Tate und Hitchens die neuen Normen: «Frauen sollten nicht wählen, weil sie sich nicht um Probleme kümmern, die über ihre eigenen Gefühle hinausgehen», «Was macht eine Frau nach 22 Uhr draussen?» oder «Wenn deine Frau etwas Dummes tut, muss sie bestraft werden». Tate behauptet sogar: «Frauen sind das Eigentum von Männern» und «Ich glaube, dass die Frau in der Ehe dem Mann gegeben wird». Frauen haben nur eine Wahl: totale Unterwerfung oder Prostitution.
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Lange Zeit haben viele Soziologen, ohne jemals einen Maskulinisten aus Fleisch und Blut getroffen zu haben, die Krise der Männlichkeit für einen Mythos erklärt. Sie haben nichts kommen sehen. Abgekoppelt von der Realität karikierten sie die MRAs, Warren Farrell und Jordan Peterson als rückwärtsgewandte und frauenfeindliche Figuren. Nur Cassie Jaye, eine echte Soziologin vor Ort, erkannte ihre Not und ihren Durst nach Gerechtigkeit.
Jetzt bricht der radikale Maskulinismus wie ein Tsunami über uns herein. Die Dämme sind gebrochen und alles muss neu aufgebaut werden. Und doch gibt es eine positive Maskulinität. Junge Männer haben etwas Besseres verdient als den vorherrschenden Nihilismus und das erniedrigende Bild, das von ihnen als grundsätzlich toxische Wesen gezeichnet wird. Sie brauchen inspirierende männliche Vorbilder und eine differenzierte, ausgewogene Sprache, um Vertrauen und Würde wiederzuerlangen. Nur so kann ein tiefer Respekt gegenüber Frauen wieder entstehen.
Yan Greppin ist Philosophielehrer am Lycée Denis-de-Rougemont in Neuchâtel.