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Wirtschaft

Edito

Wer hat Angst vor Heterodoxen?5 Leseminuten

von Antoine-Frédéric Bernhard
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Antoine-Frédéric Bernhard, stellvertretender Chefredakteur von Le Regard Libre. Zeichnung von Nathanael Schmid

Die Wirtschaft ist in der Sprache der Modelle und Gleichungen erstarrt. Ihre Grundlagen sind jedoch philosophischer Natur. Wenn man heterodoxen Strömungen wieder zu ihrem Recht verhilft, gibt man der Disziplin ihre Vitalität und ihren Pluralismus zurück - und damit auch ihre Verbindung zum Liberalismus.

Trotz ihrer manchmal heftigen Differenzen teilen die Liberalen eine gemeinsame Überzeugung: Pluralismus ist notwendig. Er ist die Grundlage der liberalen Demokratie mit ihrem Parteienwettbewerb, der Verbreitung von Ideen und der Konfrontation von Meinungen. Der Pluralismus verhindert, dass die Politik zu einem Dogma erstarrt, und verleiht ihr Lebendigkeit. In der Wirtschaft ist dieser Pluralismus jedoch eher unauffällig. Seit mehreren Jahrzehnten ist der neoklassische Strömung[1] hat sich als dominanter Rahmen durchgesetzt. Er inspiriert die großen internationalen Institutionen, die akademische Lehre und die öffentliche Politik gleichermaßen.

Die wirtschaftliche Dynamik eines Landes wird anhand des BIP gemessen, die Arbeitslosigkeit wird durch die Starrheit des Arbeitsmarktes erklärt... Diese Sprache ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden und präsentiert sich gerne als die eigentliche Form der wissenschaftlichen Strenge, wodurch ihren Postulaten ein fast dogmatischer Status verliehen wird. Dieses Bestreben lässt sich zumindest teilweise durch die Ursprünge des Wirtschaftsliberalismus erklären. Er entstand zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert in einem von der wissenschaftlichen Revolution geprägten Kontext und strebte danach, sich als eine Art Wissenschaft zu konstituieren, die in der Lage war, die Gesetze der Wirtschaft zu beschreiben, so wie Newton die Gesetze der physischen Welt beschrieben hatte.

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Dennoch ist die Analogie mehr als problematisch, wie heute viele, auch unter Liberalen, einräumen. Die Wirtschaft ist keine harte Wissenschaft. Sie beruht auf Annahmen, Modellen und philosophischen Voraussetzungen. Sie setzt eine Vorstellung vom Menschen voraus - im Falle der neoklassischen Schule das rationale, interessengeleitete Individuum -, die eher auf intellektueller Konstruktion als auf Beobachtung beruht. Es geht auch um politische und theoretische Entscheidungen: die Rolle des Staates, den Zweck der Wirtschaftstätigkeit und die Definition des Marktes selbst. Das Projekt einer sich selbst tragenden Wirtschaft beruht eher auf einem theoretischen Ideal als auf einer genauen Beschreibung des menschlichen Verhaltens.

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Aus diesem Grund war die Wirtschaft schon immer von grundlegenden Debatten durchzogen. Dieser irreduzible Pluralismus, der in den exakten Wissenschaften (Mathematik, theoretische Physik usw.), wo Theorien durch logische Beweisführung endgültig entschieden werden können, nicht vorhanden ist, bleibt für die Entwicklung der Wirtschaft konstitutiv. Dies zeigt sich auch in der Geschichte des ökonomischen Denkens: Smith ist nicht Ricardo, Marx ist nicht Keynes und Hayek ist auch nicht Keynes. Diese Geschichte ist keineswegs nur eine archäologische Kuriosität, sondern liefert Schlüssel zum Verständnis der aktuellen Krisen. Wenn man die Probleme der Staatsschulden, der Handelskriege oder des ökologischen Übergangs in die lange Zeitschiene einordnet, erhalten sie ein Relief, das die Gleichungen der zeitgenössischen Analysten allein nicht liefern können.

Diese Vielfalt an Ansätzen ist kein Störgeräusch, sondern eine Bereicherung. Sie wird mit einem Begriff gewürdigt, der die Existenz vieler Wege in der Wirtschaft beschreibt: ’Heterodoxie«. Der Begriff bezieht sich häufig auf Strömungen, die linke Politiker inspirieren, wie z. B. radikale Keynesianer oder Institutionalisten, die die Dominanz des Marktes in Frage stellen und die Rolle der sozialen Strukturen betonen. Es gibt aber auch rechte Heterodoxien. Die Österreichische Schule ist das bekannteste Beispiel dafür. Diese intellektuelle Tradition, die von Persönlichkeiten wie Friedrich Hayek und Ludwig von Mises getragen wird und liberalere Ideen als die neoklassischen Schulen vertritt, lehnt die übermäßige Mathematisierung ab, die das Fachgebiet durchdrungen hat, und vertritt ein Konzept der Wirtschaft, das sich auf individuelles Handeln konzentriert. Für ihre Denker zählen Zeit, Unsicherheit und die Erfahrung der Akteure mehr als Modelle.

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Leider gibt es eine starke Tendenz, in einem mehr oder weniger aufgezwungenen Wirtschaftsvokabular zu denken: Marktgleichgewicht, Rationalität der Akteure etc. Da diese Begriffe jedoch nicht neutral sind und theoretische und ideologische Entscheidungen widerspiegeln, bedeutet die Akzeptanz dieser Begriffe ohne Diskussion, dass man sich fälschlicherweise verbietet, anders zu denken. Daher muss die Wirtschaftsdebatte in einer Demokratie lebendig, konfliktreich und offen bleiben. Nur so kann man der Bequemlichkeit eines lauwarmen Konsenses entgehen und der Wirtschaft ihren Platz in der öffentlichen Debatte zurückgeben.

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[1] Seine letzte Variante, die als aktuelle Orthodoxie gilt, ist die «Neue Neoklassische Synthese», die Elemente des Neokeynesianismus aufgreift.

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